Ras Rotter: Ernst Haas #neuinterpretiert

Der 1922 in Wien geborene Ernst Haas wurde nach dem Zweiten Weltkrieg durch seine eindringlichen Bilder heimkehrender Kriegsgefangener berühmt. 

Er wurde in die Agentur Magnum aufgenommen, der er jahrelang als Vizepräsident diente. 1951 siedelte er in seine Traumstadt New York um, wo er zum „Vater der (amerikanischen) Farbfotografie“ aufstieg.

 

1962 bestritt er die erste Ausstellung von Farbfotografie überhaupt im MoMA, und das war eine Art Ritterschlag für ihn und seine Kunst. Bis dahin wurde Fotografie als Kunst, wenn überhaupt, so doch nur als schwarz-weiß Fotografie anerkannt. Indem Haas die Farbempfindung selbst zum Gegenstand seiner Bilder machte, konnte er diese freiwillige Selbstbeschränkung überwinden. 

 

Er erntete eine enthusiastische Kritik in der New York Times, auch wenn der übrige Kunstbetrieb damals noch wenig Notiz von ihm nahm. Er selbst beschrieb seinen imaginativen Ansatz mit dem Schlagwort: „Weniger Prosa, mehr Poesie!“

 

Haas benutzte eine leichte und fast lautlose Leica Kamera und Kodacolor Farbfilme, deren technisch be-dingte geringe Empfindlichkeit (nur acht oder zehn ASA) dazu führte, dass Personen in der Street-Fotografie oft eine Bewegungsunschärfe zeigten. 

 

Aus diesem Defizit machte Hass ein Stilmittel, und indem er in die Atmosphäre der New Yorker Straßen eintauchte, gelangen ihm ikonische Bilder. Auch der leichte Rotstich der damaligen Filme war für ihn Ausdrucksmittel und Kern eines persönlichen, intensiven Farbstils.

 

Der Titel des Bildes „Dripping Swimmer“ könnte als Wortspiel angelegt sein. Wörtlich ist dripping „triefend“, und das passt ja auch gut zu den Wassertropfen auf der Haut unseres Models. 

 

Aber „You are dripping“ bedeutet laut Microsoft Translator auf Deutsch, dass jemand sehr gut aussieht, guten Style hat, sehr schick und modisch gekleidet ist. 

 

Unsere Schwimmerin wurde im Juni 1982 in New York aufgenommen. Der Kodacolor Film war damals schon mit 400 ASA erhältlich, wies aber immer noch eine Betonung des Rotanteils auf. So konnte Haas seinen Stil beibehalten und trotzdem Aufnahmen in schlecht belichteten Innenräumen machen.

Das Bild gewinnt seine Intensität durch den kräftigen rot-grün-Kontrast und die Punktbeleuchtung über eine Lichtquelle von oben. 

Vor dem dunklen Hintergrund eines Hallenbades (?) steht die vom Kampf gegen den Wasserwiderstand erschöpfte Sportlerin und genießt mit geschlossenen Augen das Abflauen der Wettkampfspannung. Ihre linke Schulter wirkt ein wenig verspannt, vielleicht ist sie bei Wettkampf bis zum Äußersten gegangen? Sie wird sich gleich einen Bademantel überstreifen und dann ab in die Garderobe – oder gar aufs Siegerpodest?

In meiner ersten Neuinterpretation habe ich das Rot des Badeanzugs durch einen weißen Bademantel verstärkt und andererseits die Farben ein wenig gedämpft, um den historischen Charakter des Bildes nicht ganz zu verlieren. 

Das Gebäude im Hintergrund wurde zur Grotte (Vorlage aus dem Kloster Chorin), um das zu stärken. Meine Assistentin Daniela hat die weiße Badekappe fast umsonst besorgt, denn unter der dominanten Wettkampfbrille verschwindet sie ein wenig. Franziska, mein kongeniales Modell, macht nicht nur eine gute Figur. Ihr in sich gekehrter, fast schon meditativer Ausdruck lässt uns die Konzentration der Leistungssportlerin und zugleich die Verletzlichkeit ahnen, die daraus resultiert, dass diese schöne junge Frau vielleicht nicht nur auf Leistung getrimmt ist.

 

Ich bin dann aber noch einen Schritt weitergegangen. Wie würde ich diese Szene heute festhalten? Zuerst einmal mag ich gerne die technischen Möglichkeiten meiner hochwertigen Ausrüstung ausnutzen. Da kann so ein Bild viel mehr Strahlkraft gewinnen, und durch die feine Durchzeichnung bis ins letzte De- tail (immerhin hat diese Kamera 100 Megapixel Auflösung) wird es zu einem Traumgemälde, schärfer als ich es mit meinen alten Augen in der Natur sehen würde.

 

Letztlich möchte ich dann noch einen Schritt weitergehen. Das Ergebnis zeigt das letzte Visual. Visual ist übrigens mein Ausdruck für eine Abbildung, die das Leben so zeigt, wie es sein könnte, aber keinen Anspruch auf dokumentarische Genauigkeit erhebt. 

 

Wenn hier ein Mädchen im Studio sitzt, mit Wasser- tropfen bespritzt wird und im Hintergrund sieht man einen historischen Backsteinbau, dann ist das eben keine wahrheitsgetreue Darstellung einer selbsterlebten Realität, sondern ein Visual.

Der Hintergrund interessiert ja eigentlich auch nur bedingt. Mein Model, die Heldin dieser kleinen Geschichte, soll ganz im Fokus stehen. 

 


Es ist ihr Bild, ihr Portrait. Deshalb kommt nun diese Aufnahme im Hochformat, also in der Proportion, die typischerweise für Portraits verwendet wird. Ob dahinter noch eine Grotte wäre oder ein Infinity-Pool oder gar ein von Franziska selbst designtes Büro, das spielt hier keine Rolle mehr. 

 


Nur noch ein Bild an der Wand gibt der Situation etwas Tiefe. Wer ganz genau hin- schaut, kann schemenhaft erkennen: es ist das Original von Ernst Haas. Ein Insider-Witz sozusagen, eine Info an den, der sowieso schon weiß, wie alles zustande gekommen ist…

 


Und weil das Bild von heute ist, lassen wir auch die Marke des Badeanzugs unberührt. Nur die Marke des Lippenstifts, die bleibt auf ewig das Geheimnis unseres Puderluders – die hat ja auch für die ständige Erneuerung der dezenten Wassertropfen gesorgt!